Laptop mit News Hologramm - Arbeitsrecht für Arbeitgeber

Ist die Dienstreise mit der Bahn Arbeitszeit?

Das Verwaltungsgericht Lüneburg (Urteil vom 02.05.2023) sagt ja. Aber warum ist das wichtig und was ist neu daran?

Wie immer ist zunächst zwischen Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne und Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen Sinne zu unterscheiden. Einmal geht es um die Frage: Werden Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten eingehalten? Und einmal um die Frage: Ist die Zeit zu vergüten? Das muss sich nicht decken.

Die Einordnung von Dienstreisen im Hinblick auf die Vergütung kann als geklärt angesehen werden. Reisen, sofern sie ausschließlich im Interesse des Arbeitgebers erfolgen und in untrennbarem Zusammenhang mit der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung stehen, sind Arbeit und damit zu vergüten (BAG 17.10.2018, Az. 5 AZR 553/17).

Für das Arbeitszeitrecht stellt das BAG bislang auf die sogenannte Beanspruchungstheorie ab. Der Grad der Beanspruchung des Arbeitnehmers während der Reise soll maßgeblich für die Abgrenzung sein. Das bedeutet: Die Dienstreise ist dann Arbeitszeit, wenn der Arbeitnehmer auf der Reise tatsächlich arbeitet oder auf Anordnung des Arbeitgebers ein Fahrzeug selbst steuert, weil das ähnlich beanspruchend ist. Die Dienstreise in öffentlichen Verkehrsmitteln soll demgegenüber keine Arbeitszeit darstellen.

VG Lüneburg bewertete die Reisezeit als Arbeitszeit

Das VG Lüneburg folgte dieser „Beanspruchungstheorie“ in seiner Entscheidung aber nicht und berief sich stattdessen auf europarechtliche Grundlagen:

Es ging um den Fall eines Speditionsunternehmens, das Nutzfahrzeuge überführt. Es schickt seine Mitarbeiter mit der Bahn zum Abholort, um das Fahrzeug dort zu übernehmen und anschließend zum Zielort zu fahren. Von dort aus reisen die Mitarbeiter wiederum mit der Bahn zurück. Das Unternehmen bewertete die Zeiten in der Bahn – in Übereinstimmung mit der BAG-Rechtsprechung – nicht als Arbeitszeit. Das zuständige Gewerbeaufsichtsamt beanstandete dies und gab dem Unternehmen auf, die zulässigen Höchstarbeitszeiten einzuhalten. Die Bahnreisezeiten seien als Arbeitszeit zu werten. Hiergegen klagte das Unternehmen und unterlag beim VG Lüneburg.

Entscheidend sei, so das Gericht, ob der Arbeitnehmer der Arbeitgeberin zur Verfügung stehe und ihm zugewiesene Aufgaben wahrnehme. Die Reisezeit mit der Bahn zähle daher als Arbeitszeit. Die Dienstreise sei Teil der Leistungserbringung und beschränke den Arbeitnehmer, über seine Zeit selbst zu bestimmen. Die Dauer der Bahnreise hänge allein vom Überführungsort des Fahrzeugs ab und sei somit der Arbeitgeberin zuzurechnen.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Einordnung

Das VG Lüneburg folgt in seiner Entscheidung europarechtlichen Vorgaben: Danach komme es entscheidend darauf an, welche Möglichkeiten für Arbeitnehmer bestehen, ihren persönlichen oder sozialen Interessen nachzugehen. Ist das möglich, handelt es sich um Freizeit, falls nicht, um Arbeitszeit. Dazwischen gebe es nichts. Diese Kriterien seien auch auf das deutsche Arbeitszeitgesetz und den deutschen Arbeitszeitbegriff anzuwenden. Auf die Beanspruchung komme es daher nicht an.

Praxishinweise

Setzt sich die Auffassung des VG Lüneburg durch, wären die Auswirkungen erheblich. Fahrzeiten in öffentlichen Verkehrsmitteln wären künftig vollständig als Arbeitszeit zu erfassen und vor allem auch zu werten. Bei der Planung von Dienstreisen wäre darauf zu achten, dass die geltenden Höchstarbeitszeiten auch unter Einbeziehung der Reisezeiten eingehalten werden. Konkret: Bei einer Anreise von 3 Stunden zum Kunden und einer Rückreise von ebenfalls 3 Stunden wären regelmäßig nur noch 2 Stunden – maximal 4 Stunden – tatsächliche Arbeit beim Kunden erlaubt. Eine Reise mit der Bahn oder einem anderen öffentlichen Verkehrsmittel müsste bei Erreichen der 10 Stundengrenze unter Umständen auch abgebrochen werden.

Im Hinblick auf etwaige Bußgelder wird man aktuell noch abwarten können, ob sich die Rechtsprechung mit der Orientierung an dem europarechtlichen Arbeitszeitbegriff verfestigt. Angesichts unterschiedlicher Entscheidungen dürften Bußgelder, zumindest ohne vorherige Beanstandung durch die Aufsichtsbehörde, nicht unmittelbar drohen. Es empfiehlt sich aber, die Entwicklung genau zu beobachten. Was wir natürlich auch weiterhin aufmerksam für Sie tun.

Auch mit Blick auf die (vom BAG ge- bzw. erfundene) Pflicht zur vollständigen Erfassung der Arbeitszeit scheint diese Entscheidung bedeutsam:

Für eine ordnungsgemäße Zeiterfassung ist es unerlässlich sicher beurteilen zu können, was nun als Arbeitszeit gilt und was nicht. Diese Beurteilung ist nicht nur aufgrund der notwenigen Differenzierung zwischen Vergütungspflicht und Arbeitsschutz schwierig sondern – wie das Urteil zeigt – auch deshalb, weil die rechtlichen Maßstäbe nach europäischem und deutschem Recht bisher noch unterschiedlich sind.

Die fachliche Aufteilung zwischen den Gerichtszweigen – einerseits die Arbeitsgerichte für arbeits(zeit)rechtliche Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und andererseits die Verwaltungsgerichte für die öffentlich-rechtliche Durchsetzung des ArbZG – macht die Sache nicht übersichtlicher.