Laptop mit News Hologramm - Arbeitsrecht für Arbeitgeber

Ärztliche „Erstbescheinigung“ begründet nicht zwingend eine erneute Entgeltfortzahlungspflicht

Sind Arbeitnehmer länger als sechs Wochen arbeitsunfähig erkrankt, stellt sich regelmäßig die Frage, ob Arbeitgeber weiterhin zur Entgeltfortzahlung verpflichtet sind. Legen Arbeitnehmer nach dem sechs-Wochen-Zeitraum eine neue „Erstbescheinigung“ vor bzw. handelt es sich bei der elektronisch abrufbaren Bescheinigung um eine solche, leisten viele Arbeitgeber weiter bzw. erneut Entgeltfortzahlung, ohne zu hinterfragen, ob sie hierzu tatsächlich verpflichtet sind. Häufig geschieht dies in der (irrigen) Annahme, dass die ärztliche Beurteilung, es handele sich um eine neue Erkrankung, ohnehin nicht widerlegt werden könne.

Dass es sich für Arbeitgeber aber durchaus lohnen kann, diese Beurteilung in Frage zu stellen, zeigt eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 18.01.2023 (Az. 5 AZR 93/22).

1. Sachverhalt:

Der Kläger war bei der Beklagten seit 2012 beschäftigt. Im Jahr 2019 war der Kläger ab Ende August an 68 Kalendertagen arbeitsunfähig erkrankt, im Jahr 2020 bis zum 18.08.2020 an weiteren 42 Kalendertagen. Die Beklagte leistete bis zum 13.08.2020 Entgeltfortzahlung, für einen weiteren Krankheitszeitraum ab dem 18.08.2020 verweigerte sie die Entgeltfortzahlung.

Mit seiner Klage machte der Kläger Entgeltfortzahlung für weitere zehn Arbeitstage aus dem Zeitraum vom 18.08.2020 bis zum 23.09.2020 geltend. Zur Begründung legte er mehrere Erstbescheinigungen vor und erläuterte, welche Diagnoseschlüssel in den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aufgeführt gewesen seien. Um zu beweisen, dass es sich im Zeitraum ab dem 18.08.2020 nicht um eine Fortsetzungserkrankung handelte, machte er bezüglich etwaiger Vorerkrankungen Angaben zu Arbeitsunfähigkeitszeiten, die nach seiner Einschätzung auf denselben Diagnoseschlüsseln bzw. Diagnosen oder Symptomen beruhten. Hiervon ausgehend sei für keine der Erkrankungen ab dem 18.08.2020 der Sechs-Wochen-Zeitraum ausgeschöpft. Der Kläger war der Meinung, dass er nicht verpflichtet sei, sämtliche Erkrankungen inklusive Diagnosen und Symptomen aus der davorliegenden Zeit offenzulegen.

Die Beklagte war dagegen der Auffassung, sie sei ab dem 18.08.2020 nicht mehr verpflichtet gewesen, Entgeltfortzahlung zu leisten. Ab dem 18.08.2020 habe es sich um eine Fortsetzungserkrankung gehandelt, da anrechenbare Vorerkrankungen vorgelegen hätten.

Während das Arbeitsgericht der Klage noch stattgegeben hatte, hat das LAG die Klage abgewiesen. Das BAG hat sich der Auffassung des LAG angeschlossen und die Revision des Klägers zurückgewiesen.

2. Rechtliche Einordnung:

Ist ein Arbeitnehmer infolge Krankheit arbeitsunfähig, erhält er vom Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen seine Vergütung fortgezahlt (§ 3 Abs.1 Satz 1 EFZG). Ob nach Ablauf des Sechs-Wochen-Zeitraums aufgrund einer erneuten Arbeitsunfähigkeit ein neuer Entgeltfortzahlungsanspruch entsteht, hängt davon ab, ob die Arbeitsunfähigkeit auf dieselbe, fortgesetzte Krankheit zurückgeht oder auf eine neue, andere Erkrankung:

a) Fortgesetzte Erkrankung:

  • Eine Fortsetzungserkrankung liegt vor, wenn die Krankheit, auf der die frühere Arbeitsunfähigkeit beruhte, in der Zeit zwischen dem Ende der vorausgegangenen und dem Beginn der neuen Arbeitsunfähigkeit medizinisch nicht vollständig ausgeheilt war, sondern als Grundleiden latent weiterbestanden hat, sodass die neue Erkrankung nur eine Fortsetzung der früheren Erkrankung ist. Die wiederholte Arbeitsunfähigkeit muss auf demselben nicht behobenen Grundleiden beruhen, kann sich aber in unterschiedlichen Krankheitssymptomen äußern.
  • Liegt eine fortgesetzte Erkrankung vor, besteht grundsätzlich für alle Erkrankungen zusammen insgesamt nur ein Entgeltfortzahlungsanspruch für die Dauer von sechs Wochen.
  • Ausnahmsweise besteht auch wegen derselben Krankheit erneut ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung für (weitere) sechs Wochen, wenn der AN zwischenzeitlich wegen dieser Krankheit sechs Monate lang nicht arbeitsunfähig war (§ 3 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EFZG).
  • Unabhängig von einer sechsmonatigen „Nichtarbeitsunfähigkeit“ erlangt der Arbeitnehmer nach Ablauf von zwölf Monaten nach dem Beginn der ersten Krankheitsperiode einen neuen Anspruch auf Fortzahlung der Vergütung für die Dauer von bis zu sechs Wochen (§ 3 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 EFZG).

b) Andere Erkrankung:

Ist die wiederholte Arbeitsunfähigkeit nicht auf eine fortgesetzte Krankheit, sondern auf eine andere Erkrankung zurückzuführen, besteht grundsätzlich jeweils ein neuer Entgeltfortzahlungsanspruch für die Dauer von bis zu sechs Wochen. Dies gilt nur dann ausnahmsweise nicht, wenn die andere Erkrankung noch während der bestehenden (ersten) Arbeitsunfähigkeit auftritt.

Legt der Arbeitnehmer nach Ablauf eines sechswöchigen Arbeitsunfähigkeitszeitraums eine neue Erstbescheinigung vor bzw. ergibt sich diese Beurteilung aus dem elektronisch abgerufenen Attest, ist es für Arbeitgeber regelmäßig schwierig bis unmöglich zu beurteilen, ob die erneute Arbeitsunfähigkeit tatsächlich auf einer anderen Erkrankung beruht. Denn die ärztlichen Diagnosen sind dem Arbeitgeber für gewöhnlich nicht bekannt.

3. Entscheidung des BAG:

Die Entscheidung des BAG vom 18.01.2023 macht jedoch deutlich, dass Arbeitgeber – sowohl gerichtlich als auch außergerichtlich – durchaus die Möglichkeit haben, in Frage zu stellen, ob es sich wirklich um eine neue, andere Erkrankung handelt. Das BAG erkennt das Informationsdefizit auf Seiten des Arbeitgebers und berücksichtigt dies bei der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast zugunsten des Arbeitgebers:

Im ersten Schritt müsse der Arbeitnehmer darlegen, dass keine Fortsetzungserkrankung besteht. Hierzu könne er eine ärztliche Bescheinigung vorlegen. Bestreitet daraufhin der Arbeitgeber, dass eine neue Erkrankung vorliegt, habe der Arbeitnehmer Tatsachen vorzutragen, die den Schluss erlauben, es habe keine Fortsetzungserkrankung bestanden. Hierfür müsse er laienhaft bezogen auf den gesamten maßgeblichen Zeitraum schildern, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Beschwerden mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden und die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbinden. Denn erst ausgehend von diesem Vortrag sei dem Arbeitgeber substantiierter Sachvortrag möglich. Die bloße Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung genüge hingegen nicht mehr.

Darüber hinaus weist das BAG zutreffend darauf hin, dass eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die als Erstbescheinigung von einem anderen Arzt ausgestellt wurde als die vorangehende(n) Bescheinigung(en), ohnehin keinen Beweiswert hinsichtlich des (Nicht-)Vorliegens einer Fortsetzungserkrankung haben könne. Denn der neue Arzt habe im Zweifel gar keine Kenntnis von vorangegangenen Erkrankungen und diesbezüglich ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen.

Auch die Einschätzung der gesetzlichen Krankenversicherung bezüglich des Vorliegens einer neuen Erkrankung, die Arbeitgeber gem. § 69 Abs. 4 SGB X einholen können (und die neuerdings gem. § 109 SGB IV im Rahmen der e-AU automatisch zu übermitteln ist), sei für den Arbeitgeber grundsätzlich nicht verbindlich und entziehe ihm nicht sein Leistungsverweigerungsrecht. Denn die Krankenkassen könnten wegen ihrer unmittelbar betroffenen finanziellen Interessen (die gegenläufig zu denen des Arbeitgebers sind) nicht als unparteiische Dritte angesehen werden.

In Anwendung dieser Grundsätze hätte der Kläger – nachdem die Beklagte das Vorliegen jeweils neuer Erkrankungen bestritten hatte – umfassend dazu vortragen müssen, dass es sich bei den Erkrankungen ab dem 18.08.2020 nicht um Fortsetzungserkrankungen gehandelt habe. Der bloße Verweis auf die Diagnoseschlüssel genüge hierfür nicht. Denn eine Fortsetzungserkrankung könne nicht nur bei einem identischen Krankheitsbild, sondern auch dann vorliegen, wenn die Krankheitssymptome auf demselben Grundleiden beruhen. Um beurteilen zu können, ob eine Fortsetzungserkrankung in Betracht kommt, hätte der Kläger konkret zu seinen gesundheitlichen Einschränkungen und Beschwerden vortragen und seine Ärzte von der Schweigepflicht entbinden müssen. Da er dies nicht getan habe, stehe ihm ab dem 18.08.2020 kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung zu.

4. Fazit:

Die Entscheidung macht deutlich, dass Arbeitgeber auf die wiederholte Vorlage von „Erstbescheinigungen“ hin nicht dazu verpflichtet sind, reflexartig auch über sechs Wochen hinaus Entgeltfortzahlung zu leisten. Sie können vielmehr das Vorliegen der durch die Erstbescheinigung behaupteten neuen Erkrankung bestreiten und die Entgeltfortzahlung so lange einstellen, bis der Arbeitnehmer konkrete Angaben zu seinen Erkrankungen gemacht hat.

Die seitens des BAG aufgestellten Grundsätze zur Darlegungs- und Beweislast gelten nicht nur im gerichtlichen Verfahren, sondern auch außergerichtlich. Arbeitgeber haben demnach ganz grundsätzlich die Möglichkeit, die Entgeltfortzahlung unter Hinweis auf eine mögliche Fortsetzungserkrankung zu verweigern, wenn ein Arbeitnehmer nach Ausschöpfung von sechs Wochen Entgeltfortzahlung innerhalb eines Jahres erneut arbeitsunfähig erkrankt. Möchte der Arbeitnehmer seinen etwaigen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in diesem Fall nicht verlieren, muss er konkrete Angaben zu seinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Beschwerden sowie den Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit machen und ggf auch seine Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbinden.

Diese Entscheidung ist umso relevanter, als Arbeitgeber durch die neue elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung noch weniger Informationen erhalten als bislang, denn daraus ist nicht einmal mehr der behandelnde Arzt erkennbar, der die Arbeitsunfähigkeit festgestellt hat. Um prüfen zu können, ob tatsächlich eine Pflicht zur Entgeltfortzahlung besteht, ist der Arbeitgeber zwingend auf konkrete Auskünfte des Arbeitnehmers angewiesen.

Die so gewonnenen Informationen zu den Ursachen der Arbeitsunfähigkeit sind für Arbeitgeber nicht nur für die Frage der Entgeltfortzahlung interessant, sondern auch in Hinblick auf den zukünftigen Bestand des Arbeitsverhältnisses. Stellt sich heraus, dass der Arbeitnehmer an einem chronischen Grundleiden leidet, das einen ungestörten, d.h. nicht von ständigen Erkrankungen unterbrochenen, zukünftigen Verlauf des Arbeitsverhältnisses ausschließt, können die so erlangten Informationen ggf. auch zur Begründung einer personenbedingten Kündigung herangezogen werden.

Diese Entscheidung belegt einmal mehr, dass die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keineswegs über jeden Zweifel erhaben ist. Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung besteht nicht wegen der Vorlage dieser Bescheinigung sondern nur wenn tatsächlich eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit von maximal 6 Wochen Dauer vorliegt. Die AU-Bescheinigung ist lediglich ein Beweisvehikel. Und der Beweiswert dieser Bescheinigung kann erschüttert werden, sowohl hinsichtlich der Frage, ob überhaupt eine Arbeitsunfähigkeit vorliegt wie auch hinsichtlich der Frage, ob es sich um eine Erst- oder Fortsetzungserkrankung handelt. Eine „objektive Institution“ zur Klärung dieser Fragen existiert nicht, insbesondere ist eine solche Klärung nicht durch die Krankenkassen zu erwarten. Für den Arbeitgeber bleibt im Zweifel also nur, die Entgeltfortzahlung zu verweigern. Dies läuft im Extremfall auf eine Klärung vor dem Arbeitsgericht hinaus. Gerade dies muss der Arbeitgeber aber nicht scheuen, denn gerade hier verhilft die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast dem Arbeitgeber oft zu positiven Ergebnissen – und sei es nur, dass der Arbeitnehmer zum Beleg seines Anspruchs umfangreich zu den Details seiner Krankengeschichte vortragen muss.

Für den Zweifelsfall lautet daher die dringende Empfehlung, die Entgeltfortzahlung einzustellen, weitere Informationen vom Arbeitnehmer zu verlangen und es bei Fortbestehen der Zweifel auf ein Gerichtsverfahren ankommen zu lassen.