Mit der Ausweitung mobiler Arbeitsformen in den vergangenen zwei Jahren hat zumindest statistisch betrachtet auch die Anzahl von „Arbeitsunfällen“ im Zusammenhang mit diesen mobilen Arbeitsformen stark zugenommen. Gerade bei der Verrichtung der Arbeitsleistung im Homeoffice war seit jeher der „normale“ Haushaltsunfall von einem Arbeitsunfall nur schwer zu trennen, insbesondere wenn sich das Unfallgeschehen auf Treppen oder Wegen innerhalb der Wohnung des Arbeitnehmers ereignete. Die sozialgerichtliche Rechtsprechung war in diesem Zusammenhang über viele Jahre recht restriktiv, was den Gesetzgeber im vergangenen Jahr dazu veranlasst hatte, in § 8 Abs. 1 SGB VII einen klarstellenden dritten Satz aufzunehmen der vorsieht, dass bei Tätigkeit im Homeoffice „Versicherungsschutz im gleichen Umfang wie bei der Ausübung der Tätigkeit auf der Unternehmensstätte“ (sic!) bestehe. Aufgrund ihrer Konturlosigkeit hat diese Gesetzesänderung zunächst allerdings mehr Fragen aufgeworfen als Lösungen bereitgehalten.
Der aktuelle Fall:
In diese Gemengelage hinein hatte das Bundessozialgericht (BSG) nunmehr erneut ein Unfallgeschehen im Haushalt des Arbeitnehmers rechtlich einzuordnen. Der Arbeitnehmer war in der Früh gegen 07:00 Uhr auf einer Wendeltreppe in seinem Haus zu Sturz gekommen und hatte sich dabei schwer verletzt. Nach seinem eigenen Vortrag befand er sich dabei auf direktem Weg von seinem Schlafzimmer in sein häusliches Arbeitszimmer. Nach den Feststellungen der Vorinstanz verrichtete dieser Arbeitnehmer üblicherweise in der Früh keine Morgentoilette und nahm auch kein Frühstück zu sich. Stattdessen begab er sich immer auf direktem Weg aus seinem Schlafzimmer in das darunter liegende Arbeitszimmer.
Die Entscheidung:
Das BSG hatte nun zu entscheiden, ob sich der Sturz auf einem versicherten „Betriebsweg“ ereignete oder ob das Begehen der Wendeltreppe lediglich eine unversicherte „Vorbereitungshandlung“ für die eigentliche Tätigkeit darstellte.
Der bisherigen Rechtsprechung des BSG hätte es wohl eher entsprochen, dieses Geschehen als unversicherte Vorbereitungshandlung einzuordnen.
Das BSG kam jetzt allerdings – soweit man es der knappen Pressemitteilung entnehmen kann – zu dem Ergebnis, dass dieses Geschehen als Arbeitsunfall einzuordnen ist. Das Beschreiten der Treppe Richtung Homeoffice habe nach den verbindlichen Feststellungen des Landessozialgerichts allein der erstmaligen Arbeitsaufnahme gedient und sei deshalb als Verrichtung im Interesse des Arbeitgebers im Betriebsweg als versichert gewesen (BSG, Urteil v. 08.12.2021 – B 2 U 4/21 R).
Einordnung:
Ob und inwieweit das Gericht seine Entscheidung inhaltlich bereits auf den neuen
§ 8 Abs. 1 S. 3 SGB VII gestützt hat wird erst eine Auswertung der bislang noch nicht vorliegenden Entscheidungsgründe ergeben. In jedem Fall ist die Entscheidung insoweit richtungsweisend, als sie eine deutliche Ausweitung des Versicherungsschutzes bei Tätigkeiten im Homeoffice ermöglichen dürfte. So wird künftig auch der „Betriebsweg“ im Homeoffice dem gesetzlichen Unfallversicherungsschutz unterliegen, wenn sich aus der objektivierten Handlungstendenz des Versicherten entnehmen lässt, dass dieser bei der zum Unfallereignis führenden Verrichtung eine dem Unternehmen dienende Tätigkeit ausüben wollte und diese Handlungstendenz durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigt wird.
Die große Herausforderung wird darin liegen, geeignete Grenzen für dieses ausufernde Haftungsszenario zu entwickeln. Man nehme etwa an, dass ein Arbeitnehmer in der Früh zunächst einmal den Gehweg vor seinem Anwesen von Schnee und Eis befreit. Nach getaner Arbeit fasst er den Entschluss, sich nunmehr unmittelbar (!) der Tätigkeit in seinem Homeoffice zuzuwenden, kommt aber noch auf dem Rückweg auf einem vereisten Stück Gehweg zum Sturz und verletzt sich. Soll nun dieser eigentlich alltägliche Unfall allein dadurch, dass der Arbeitnehmer (angeblich) just in diesem Moment die Absicht hatte, sich der Arbeit in seinem Homeoffice zuzuwenden zu einem Arbeitsunfall umgewidmet werden? Und würde dies gegebenenfalls dazu führen, dass mehr oder weniger jedes Unfallgeschehen im Haushalt eines mobil arbeiten Arbeitnehmers zu einem Arbeitsunfall werden kann allein dadurch, dass der Arbeitnehmer kurz vor dem Unfallgeschehen den Entschluss gefasst hat, sich jetzt aber wieder seiner Arbeit zuzuwenden?
Für Arbeitgeber ergeben sich aus dieser Haftungsausweitung unmittelbar keine direkten „Risiken“. Insbesondere muss ein Arbeitgeber wohl nicht fürchten, für derartige abseitige Unfallereignisse in Regress genommen zu werden. Ein Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, derartige abseitige Unfallgefahren im Haushalt eines mobil arbeitenden Arbeitnehmers zu erkennen und zu beseitigen, er würde auch weder über die rechtlichen (Zutrittsrecht) noch über die nötigen praktischen Möglichkeiten verfügen, die häusliche Umgebung eines Arbeitnehmers – die ja nicht zuletzt ständigen Veränderungen unterliegt – gegen alle denkbaren Unfallgeschehnisse abzusichern.
Es besteht also weder ein Grund für hektische Betriebsamkeit im Hinblick auf eine arbeitgeberseitige Reduzierung privater Unfallrisiken noch müsste man die Möglichkeit zu mobiler Arbeit allein deshalb einschränken, weil man Regressrisiken aus derartigen Unfallgeschehnissen befürchtet.
In jedem Fall aber mag es – schon um der Sicherung und Aufrechterhaltung der Arbeitskraft der Mitarbeiter – nicht verkehrt sein, die Mitarbeiter bei passender Gelegenheit auf typische Gefahren rund um das Homeoffice und den Aufenthalt im Haushalt hinzuweisen in der Hoffnung, dass der Ein oder Andere diese Hinweise beherzigt und vermeidbare Gefahrenquellen abschafft.
Sollten in diesem Zusammenhang die Aufwendungen der gesetzlichen Unfallversicherung deutlich ansteigen – was insbesondere dann anzunehmen wäre, wenn die Häufung von „Arbeitsunfällen“ im Umfeld mobiler Arbeit stärker steigt als gleichzeitig die Anzahl der Arbeitsunfälle im unmittelbaren betrieblichen Kontext abnimmt – dann wäre zumindest mit einer Anhebung der letztlich von den Arbeitgebern zu tragenden Umlagen zu rechnen.
Insoweit bleibt die weitere Entwicklung der sozialgerichtlichen Rechtsprechung mit Spannung abzuwarten.