Unter großer medialer Aufmerksamkeit hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) am 20.12.2022 zwei wenig überraschende aber dennoch weitreichende Entscheidungen zum Urlaubsrecht getroffen.
1. Keine Verjährung bei unterbliebener Belehrung
Zum einen hat das BAG entschieden (BAG, Urt. v. 20.12.2022, Az.: 9 AZR 266/20 = PM Nr. 48/22 des BAG), dass der gesetzliche Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub zwar grundsätzlich der Verjährung unterliegt, die dreijährige Verjährungsfrist allerdings erst am Ende des Kalenderjahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat, zu laufen beginnt. Fehlt es an einer solchen Belehrung, kann der Urlaubsanspruch nicht verjähren. In diesem Fall können sich Arbeitgeber nicht auf die regelmäßige dreijährige Verjährung (§§ 195, 199 BGB) berufen. In der Folge können Arbeitnehmer also unbegrenzt noch offene Urlaubsansprüche aus früheren Jahren geltend machen.
2. Kein automatischer Verfall bei unterbliebener Belehrung
Ebenso wenig können sich Arbeitgeber gegenüber erkrankten Mitarbeitern bei unterbliebener Belehrung auf den Verfall des Urlaubs nach Ablauf von 15 Monaten berufen. Hierzu hat das BAG entschieden (BAG, Urt. v. 20.12.2022, Az.: 9 AZR 245/19 = PM Nr. 47/22), dass der Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub aus einem Urlaubsjahr, in dem der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat, bevor er aus gesundheitlichen Gründen an der Inanspruchnahme seines Urlaubs gehindert war, regelmäßig nur dann nach Ablauf von 15 Monaten erlischt, wenn der Arbeitgeber ihn rechtzeitig über den Urlaub und dessen drohenden Verfall belehrt hat.
Nach bisheriger BAG-Rechtsprechung gingen die gesetzlichen Urlaubsansprüche in einem solchen Fall – bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit – ohne weiteres mit Ablauf des 31. März des zweiten Folgejahres unter („15-Monatsfrist“). Zwischenzeitlich hatten einzelne Landesarbeitsgerichte entschieden, dass Urlaubsansprüche auch bei einem längerfristig erkrankten Arbeitnehmer nur nach hinreichender Belehrung durch den Arbeitgeber verfallen können. Nach dem aktuellen Urteil ist hier künftig zu differenzieren:
• War der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres aus gesundheitlichen Gründen daran gehindert, seinen Urlaub anzutreten, verfällt der Urlaubsanspruch weiterhin mit Ablauf der 15-Monatsfrist. In diesem Fall kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig über den Urlaub und dessen drohenden Verfall belehrt hat, da eine solche Belehrung nicht zur Inanspruchnahme des Urlaubs hätten beitragen können.
• Hat der Arbeitnehmer hingegen im Urlaubsjahr tatsächlich gearbeitet, bevor er voll erwerbsgemindert oder krankheitsbedingt arbeitsunfähig geworden ist, setzt die Befristung des Urlaubsanspruchs regelmäßig voraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit über den Urlaub und dessen drohenden Verfall belehrt und ihn so in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub auch tatsächlich zu nehmen.
Mit den beiden Entscheidungen setzt das BAG die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) um, die dieser bereits im September diesen Jahres aufgestellt hatte (vgl. Newsletter vom 29.09.2022). Die Entscheidungen machen einmal mehr deutlich, wie stark das nationale Urlaubsrecht mittlerweile durch das europäische Recht geprägt ist, das den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer über den Zweck der nationalen Verjährungs-/Verfallvorschriften, Rechtssicherheit zu schaffen, stellt.
Folgen für die Praxis:
Für Arbeitgeber haben die Entscheidungen potenziell weitreichende Folgen:
Es drohen Nachforderungen von Arbeitnehmern bis weit in die Vergangenheit zurück. Arbeitgeber müssten für einen erfolgreichen Einwand der Verjährung bzw. des Verfalls des Urlaubsanspruchs darlegen können, dass sie den Mitarbeiter rechtzeitig über seine Urlaubsansprüche und den drohenden Verfall informiert haben. Dies wird gerade für Urlaubsansprüche aus den Jahren vor 2018, aus einer Zeit also, zu der noch niemand wusste, dass die Rechtsprechung derartige Belehrungspflichten entwickeln würde, kaum gelingen.
Einen Hoffnungsschimmer gibt es aber: Bislang ist nicht geklärt, ob die neuen Regeln auch für Urlaubsabgeltungsansprüche gelten. Aus den bislang allein vorliegenden Pressemitteilungen des Gerichts lässt sich hierzu nichts ableiten. Es besteht somit die Chance, dass zumindest Urlaubsabgeltungsansprüche der regelmäßigen Verjährung unterliegen. In diesem Sinn hatte auch das BAG bislang noch festgestellt (allerdings noch vor den Vorgaben des EuGH im September 2022), dass Abgeltungsansprüche Verjährungs- und Verfallfristen unterliegen (BAG, Urt. v. 24.5.2022, Az.: 9 AZR 461/21). Falls das BAG hieran festhält, würden Arbeitnehmern, die 2017 oder früher ausgeschieden sind, zum aktuellen Zeitpunkt keine Ansprüche auf Abgeltung von in der Vergangenheit nicht genommenen Urlaubsansprüchen mehr zustehen. Falls solche Arbeitnehmer unter Berufung auf die aktuellen Entscheidungen Abgeltungsansprüche für die Vergangenheit geltend machen sollten, besteht für Arbeitgeber zum jetzigen Zeitpunkt keine Veranlassung, solche Forderungen ohne weiteres zu erfüllen. Abgeltungsansprüche aus Arbeitsverhältnissen, die im Jahr 2018 endeten, könnten ehemalige Arbeitnehmer hingegen noch bis Ende 2022, Ansprüche aus 2019 bis Ende 2023 usw. geltend machen.
Für Sachverhalte aus der Vergangenheit steht kein Hilfsmittel mehr zur Entschärfung der Situation zur Verfügung. Einzig denkbar wäre, jedenfalls in noch bestehenden Arbeitsverhältnissen einen künftigen Verfall in Gang zu setzen, indem man die Mitarbeiter jetzt über etwa noch bestehende Urlaubsansprüche aus den Vorjahren informiert. Das wird aber aller Voraussicht nach nicht den Verfall dieser Urlaubsansprüche sondern deren tatsächliche Inanspruchnahme seitens der – wahrscheinlich aktuell noch unwissenden – Arbeitnehmer bewirken und ist daher eher kontraproduktiv.
In Abhängigkeit von internen Berichtspflichten und den spezifischen Gegebenheiten bei der Bildung von Rückstellungen wird jeder Arbeitgeber zu bewerten haben, ob unter dem Eindruck dieser Urteile Rückstellungen für etwaige, bis dato unerkannte Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche gebildet werden müssen.
Für die Zukunft geben die aktuellen Entscheidungen in jedem Fall Anlass, den Umgang mit Urlaubsansprüchen und deren möglichem Verfall nochmals zu hinterfragen. Kein Arbeitgeber ist verpflichtet, auf einen Verfall von Urlaubsansprüchen hinzuwirken. Eine partielle Ansammlung von Urlaubsansprüchen kann – z.B. wenn die Inanspruchnahme in laufenden Jahr auch vom Arbeitgeber nicht unbedingt gewollt ist – auch hingenommen werden. Wichtig ist dann nur, dass der Arbeitgeber sich über deren Fortbestand der Urlaubsanprüche bewusst ist.
Wer dies vermeiden möchte hat nun erst Recht Anlass sorgfältig prüfen, ob ausnahmslos alle Mitarbeiter rechtzeitig, ordnungsgemäß und nachweisbar (!) über bestehende Urlaubsansprüche und deren drohenden Verfall informiert werden. Nur wenn diese Belehrungspflicht konsequent umgesetzt und die Erfüllung dieser Verpflichtung auch nachweisbar dokumentiert wird, lässt sich ein unbegrenztes Ansammeln alter Urlaubsansprüche für die Zukunft vermeiden.